Tagesablauf

In der Zunft Fluntern beginnt das heitere Frühlingsfest im blumengeschmückten, freundlich blau-weiss herausgeputzten Foyer vor der Zunftstube mit einem Apéritif. Möglicherweise wird dieser in Zukunft allerdings zu einem Frühstück (Zmorgetif) mit Kaffee, Ovomaltine und Gipfeli umfunktioniert. Dies deshalb, weil der Beginn in den letzten Jahren zugunsten des immer umfangreicher gewordenen Tagesprogramms zunehmend früher angesetzt worden ist. Da der Zünfterschaft jedoch Trinkfestigkeit zuerkannt wird, ist vorderhand auch für 09.30 Uhr Weisswein angesagt. Nicht richtig ist deshalb, was in verschiedenen Beschreibungen zum Sechseläuten steht, wonach die Zünfter gegen elf Uhr auf ihre Stube strömen. Bei der Zunft Fluntern herrscht dann schon hoher Festbetrieb.

Mit dem Eintreffen auf der Stube beginnt der Tagesablauf mit heiteren Begrüssungen. Die Freude auf den bevorstehenden Festtag im Kreis der Zunftfreunde ist gross und spürbar. Beim zuprosten lachen die Augenpaare sich zu, unterstützt vom funkelnden Glanz der klingenden Gläser. Individuell werden die Gespräche unterbrochen für das Anpassen der Perücke. Gelassen wird dabei das ungewohnte Gefühl von Haarnadeln ertragen, die zur Befestigung in der natürlichen Haarpracht unerlässlich sind. Je nach Tagestemperatur fallen dabei fachkundige Kommentare über zu erwartende Strapazen, die insbesondere an sonnigen Tagen nicht unerheblich sind. Man ist dann dankbar für den fürsorglichen Rat: „Muesch halt dänn jede Chaltwasserhaane guet aaluege, das chüelet“.

Die heitere Aufwärmrunde wird beendet, wenn der Stubenmeister mit energischem Läuten seiner Tischglocke zum Platzbezug in der festlich hergerichteten Zunftstube bittet. Ein jeder sucht dann seinen vom Los bestimmten Stuhl auf und findet sich bald darauf in einer munteren Tischrunde wieder. Getafelt wird an runden Tischen, die mit dieser Form dem geselligen Gespräch sehr zuträglich sind. Von Fest zu Fest sind die Tische immer in neuer, prächtiger Form frühlingshaft mit Blumen geschmückt. Den verheissungsvollen Gedecken beigelegt sind mit dem Zunftwappen bedruckte Faltblätter. Sie informieren über Ehrengäste und Gäste sowie über die Zugsordnung, geben aber auch preis, mit welchen Aufwartungen aus der Küche zu rechnen ist, zum Beispiel mit einer bald bevorstehenden Aargauer Rüebli-Suppe, später mit einem Brasato al Barolo oder viel später mit einer Bratwurst für die Geisterstunde nach Mitternacht.

Dann geht es los, Schlag auf Schlag und höchst anforderungsreich für den Zunftmeister. Bereits die protokollgerechte Begrüssung ist umfangreich. Dabei gibt es erste Hinweise zu den Ehrengästen, die Gäste von Zunft und Zünfter werden vorgestellt, alle zusammen mit den Zünftern und Gesellen zum besonderen Festtag herzlich willkommen geheissen und es wird jener Zünfter gedacht, die an der Teilnahme verhindert sind. Diesem frohen Teil folgt unmittelbar das von Traditionen geprägte Aufnahmezeremoniell für die neu aufgenommenen Zünfter. Dann ist bereits ein erster Höhepunkt an der Reihe: die Meisterrede, von der Substanz erwartet wird und die im Anschluss natürlich Gesprächsstoff an den runden Tischen liefert, bis die Vorspeise aufgetragen wird. Aufgelockert wird das Festmahl durch das Pflichtprogramm der Ehrengäste, die ihre Einladung mit einer Rede abgelten müssen. Ihre Vorstellung durch den Zunftmeister ist nicht nur sachdienlich für die Zünfter, sondern meist auch lehrreich für den Vorgestellten, weiss er doch hinterher nicht nur mehr über seine Tugenden, sondern vor allem auch über seine Untugenden. Die Reden der Ehrengäste gehören oftmals zu den Sternstunden des Tages. Sie sind weitgehend von Heiterkeit geprägt, dazwischen fallen aber auch nachdenkliche und besinnliche Worte. Ein grosser, beglückender Genuss zur Mittagszeit sind allfällige Besuche von Kinderdelegationen anderer Zünfte. Sie kommen vor, wenn ein neuer Zunftmeister sein Lehrjahr beginnt oder wenn ein Jubiläum ansteht. Dann werden Grussbotschaften oder Gratulationen überbracht, die, zumeist in liebevoller Versform verfasst, von den Dreikäsehochen wacker vorgetragen werden.

Am frühen Nachmittag meldet sich das beliebte, hochkarätige Zunftspiel mit einem kleinen, immer willkommenen, grandiosen Ständchen zu seinem strengen Tageseinsatz bereit. Damit naht dann auch der Aufbruch zum Umzug. Am Hirschengraben stehen Wagen und Pferde bereit. Nicht nur bei den Reitern steigert das Geklapper der Hufe auf dem Asphalt die Freude auf den bevorstehenden Umzug. Die Zünfter sind jetzt nicht mehr unter sich. Hinzugekommen sind die Kinder, die am Umzug mitlaufen und eine Vielzahl von Gattinnen, die kreuz und quer durch die vorerst noch arg verzettelte Zunft bereits erste Blumen verteilen. Sie bauen damit etwas vom Stress ab, der sie sonst unbarmherzig befällt, wenn am Umzug alle ihre zünftigen Lieblinge aus der eigenen Zunft in enger Formation aufmarschieren. Dazu bevölkern Schaulustige den Strassenrand und in nächster Nähe machen sich auch die Zünfte Riesbach und Letzi für den Weg in die Stadt bereit. Mit dem frohgemuten Marsch Richtung Bahnhofnähe beginnt dann der öffentliche Teil des Festtages, den Constaffel und Zünfte zur Freude der Zuschauer gemeinsam begehen.

Abhängig von der Reihenfolge im Umzug gibt es in der Stadt eine mehr oder weniger lange Pause. Sie wird individuell genutzt, sei es für einen interzünftigen Getränkenachschub in einem nahe gelegenen Restaurant, sei es um da und dort in den anderen Zünften einen Freund auszumachen, mit dem der bisherige Festverlauf eingehend zu besprechen ist. Möglich ist manchmal auch, dem schon laufenden Umzug zuzusehen, von dem man sonst als Teilnehmer immer nur einen zufälligen Ausschnitt während dem Kontermarsch auf der Bahnhofstrasse wahrnehmen kann.

Der imposante Umzug mit den bunt gewandeten Zünftern, den rassig aufspielenden Musikcorps, den Pferden, Fuhrwerken und Bannern durch die fahnengeschmückte Bahnhofstrasse und das beflaggte Limmatquai ist auch aus Zünfterperspektive überaus reich an Eindrücken. Im steten Wechselspiel von bekannten und unbekannten Gesichtern kann fortlaufend der Beweis verfolgt werden, dass Blumensträusse fliegen können, wenn sie nicht gerade artig überreicht werden. Zuhauf gibt es einen Kuss da, ein freundliches Wort dort und Blumen ohne Unterbruch. Die Freude darüber ist gross, Zürich lacht und ist fröhlich, die Börse ist uninteressant und die Welt in vollkommener Ordnung.

Jahr für Jahr ist die Hinrichtung des wattierten Wintersymbols ein packendes Erlebnis. Farbenfroh umringen die aufmarschierten Zünfte mit ihren Fahnen, Blumen, Uniformen und Kostümen den Hauptdarsteller auf dem mächtigen Holzstoss. Wenn dann die Reitergruppen in ordentlicher Formation oder als wilde Horde den in Flammen stehenden Böögg im Galopp umrunden, mächtig angefeuert von den Rufen ihrer Bodentruppen und unterstützt vom Sechseläutenmarsch des Zunftspiels, werden die Strapazen des zurückliegenden Umzuges unwichtig. Und auch bestandene Zünfter schrecken bisweilen noch zusammen, wenn unweit von ihrem Standort die gewaltigen Kracher im Schneemann explodieren und den bedauernswerten Wattemann in Stücke reissen. Dies mit dem immer gleichen Ziel, das ein kleines Wehntalermädchen einst mit dem Zerbersten des Schneemannkopfes erleichtert mit einem Seufzer vor sich hinsprach: „Jetzt wird’s Früelig“.

Seit 1959 ist es in der Zunft Fluntern zur Tradition geworden, dass zum Apéritif vor dem Nachtessen die Damen eingeladen sind. Diese gemeinsame, betriebsame Trinkstunde voller Fröhlichkeit ist heute nicht mehr wegzudenken und von Jahr zu Jahr auch kaum mehr zu beenden. Der Stubenmeister braucht jeweils schon sehr viel Energie, bis er seine Zünfter zum Nachtessen in der Stube wieder beisammen hat. Obwohl: Die Nachtessenszeit ist immer auch etwas willkommene Ruhezeit. Nicht nur wer bereits etwas ältere Beine zu seinem körpereigenen Inventar zählt, schätzt jetzt die Annehmlichkeiten eines Stuhls. Dessen Benutzung ist allerdings zeitlich massiv eingeschränkt. Eine gute Stunde nur bleibt für das gemeinsame Mahl, bis es bereits Zeit ist für die abendlichen Zunftbesuche.

Kurz vor dem Auszug verkündet der Stubenmeister, wohin die Besuche führen und wer als Sprecher versuchen wird, Zunft und Zunftmeister der zu besuchenden Zunft gehörig aufs Korn zu nehmen. Beliebt sind natürlich Besuche bei Zünften, deren Zunftstuben in der Innenstadt liegen. Das ist verständlich. Das zünftige Treiben im Publikumsgedränge der engen Altstadt-Gassen gehört zu den stimmungsvollen Höhepunkten eines jeden Sechseläutens. Die sich kreuzenden, flott musizierenden Zunftspiele, die sachte schaukelnden Laternen und die ihrem Banner folgenden Zünfter sind Jahr für Jahr ein besonderes Erlebnis. Dazu gehört natürlich auch der Einzug auf eine fremde Zunftstube zu den Klängen des Sechseläutenmarsches. Herzhaft wird dann über die Einfälle des Sprechers gelacht und gespannt wird die unmittelbar zu erfolgende, möglichst schlagfertige Replik des überraschten Zunftmeisters entgegen genommen.

Gegen Mitternacht kehrt die Zunft von Ihren Besuchen zurück. Sie wird vom Zunftmeister willkommen geheissen, der jetzt seine Schar wieder um sich hat und dem inzwischen von den heiteren Wortgefechten auf den Zunftstuben berichtet worden ist. In kurzer Form qualifiziert er die selber erhaltenen Besuche und ergänzt, was ihm als Antwort zu den Reden eingefallen ist. Nach einem letzten Auftritt des Zunftspiels, das den langen, anstrengenden Musikantentag immer hervorragend meistert, bedanken sich die Zünfter mit viel Applaus für dessen grandiosen Einsatz. Dem Zunftmeister bleibt jetzt nur noch das offizielle Ende des Sechseläutens in der Zunft Fluntern zu verkünden. Über vierzehn Stunden intensiver Festbetrieb haben müde gemacht. Für den Heimweg ist jetzt eine Stärkung mit Bier und Wurst willkommen. Zum Ausklang gibt dies zudem die gute Gelegenheit, die Höhepunkte des Tagesgeschehens in kleinen Grüppchen nochmals aufleben zu lassen und den individuellen Schluss des Festes noch etwas hinzuziehen.

S’Sächsilüüte-n-isch verbii
und schöön isches wi-e immer gsii.
Mer händ vill glachet und guet gässe,
sind vergnüegt bi Fründe gsässe,
händ zäme herzhaft pokuliert,
sind trotzdem aber au marschiert
und uf de Wise, nääch bim See,
isches au daas Jaar äimaal mee,
nach em Galopp vo Riiterhorde
z’Züri wieder Früelig worde.