Geschichte des Quartiers Fluntern, seine Entwicklung und seine Bedeutung für Zürich

Oben hinaus

Die Quartier-Grenzen von Fluntern verlaufen kompliziert und verschlungen. Nördlicher Nachbar ist Oberstrass, südlich ist es Hottingen. Im Osten endet Fluntern hoch oben im Zürichbergwald, im Westen ungefähr entlang der Rämistrasse. Das Gefälle von oben nach unten beträgt gut 12 Prozent.

Aber ob oben oder unten – für die Stadt Zürich war Fluntern immer eine Hochburg. In frühen Zeiten für gutes Wasser und für Geissenmilch, heute für hochkarätige Prominenz und gute Steuerzahler. Aus dem Jupiterbrunnen am Neumarkt sprudelte ab 1427 Quellwasser aus Fluntern. Er war einer der ersten Röhrenbrunnen von Zürich. Gespeist wurde er von der so genannten Schlossleitung, die vom Susenberg in die Stadt hinunter führte. Und lange bevor das Bergdorf  1893 zur Stadtgemeinde wurde, zogen Fluntermer Bauern täglich mit ihren Geissen die steile Kreuzstrasse (die heutige Zürichbergstrasse) hinunter auf den Zähringerplatz, wo sie frisch ab Euter Milch verkauften – den halben Liter zu 5 Rappen.

Schlachtgetöse und Sonntagsausflug

Auf Fluntermer Boden stand eine wichtige Hochwacht (oberhalb vom Hotel Zürichberg) mit Sichtverbindung zur Kyburg und weiteren Spähpunkten in der Zürcher Landschaft. Drohte der Stadt Gefahr, wurden hier Warnfeuer entzündet oder – im Falle von Nebel – dröhnende Böllerschüsse abgefeuert. Als 1798 die Franzosen in die Schweiz einmarschierten, entstand auf dem Zürichberg ein eigentliches Fort mit Schanzen und 600 Meter breiten Verhauen. Von hier aus bekämpften die Franzosen die angreifenden Österreicher und Russen. Das Schlachtendenkmal beim Hanslinweg erinnert heute daran. Fluntermer waren an den Gefechten nicht beteiligt; sie mussten beim Bau der Schanzen „nur“ Frondienst leisten.

In friedlichen Zeiten hingegen zog es die Städter gern den Berg hinauf. Hier gab es ungezählte Sommerwirtschaften und ab 1875 oberhalb der ehemaligen Hochwacht sogar einen Aussichtstturm – grandiose Attraktion für alle Ausflügler! Leider erwies sich die 11'000 Franken teure Holzkonstruktion als sehr witterungsanfällig und musste nach sieben Jahren wegen Einsturzgefahr wieder abgebrochen werden. Nicht minder Aufsehen erregend war 25 Jahre später das Alkoholfreie Kurhaus Zürichberg. (Vollpension pro Tag Fr. 3.— bis 3.50). Ein Jahr später kam das Restaurant dazu. Und damit machte Initiantin Susanne von Orelli möglich, was bisher undenkbar war: Im „Alkoholfreien“ konnte eine Frau allein einkehren.

Das weithin sichtbare Backsteingebäude wurde zur obersten Perle in einer ganzen Schnur von wichtigen und herausragenden Gebäuden auf Fluntermer Boden. (Der 1995 eröffnete, vielfach prämierte Erweiterungsbau der Architekten Burkhalter und Sumi setzte einen weiteren Akzent.) Zu finden sind etwa Bauten von Karl Moser, Lux Gujer, Theo Hotz oder Gigon/Gujer. Unter den historischen Juwelen ist der „Platanenhof“  an der Zürichbergstrasse speziell zu erwähnen.

Wissenschaft und Weltläufigkeit

1842 wurde an der untersten Grenze des Quartiers das Kantonsspital eröffnet. Zwölf Jahre später die von Gottfried Semper erbaute ETH, in deren Südflügel während 50 Jahren auch die Universität einquartiert war. 1882 kam das Rotkreuzspital dazu. Die Platte – eben noch dörfliche Provinz - mutierte dank der vielen Studenten und Professoren zum Quartier Latin der Limmatstadt. Viel zu reden gaben die Russen: Zwischen 1872 und 1874 war ein Drittel aller Studierenden russischer Herkunft. Die temperamentvollen Russinnen, von ihren Kommilitonen oft „Kosakenpferdchen“ genannt, wohnten in den zahlreichen Pensionen an der Platte, unter ihnen auch Rosa Luxemburg. Eine Plakette am Haus Plattenstrasse 47 erinnert an den Zürcher Aufenthalt der streitbaren Sozialistin. Doch auch viele Professoren nahmen bald Wohnsitz in Fluntern, unter ihnen mehrere Nobelpreisträger wie Albert Einstein, Leopold Ruzicka, Paul Karrer oder Tadeus Reichstein.

Sensation Zoo

Ein weiterer Meilenstein in der Bedeutung von Fluntern für die Stadt Zürich war 1929 die Eröffnung des Zoos. Dort herrscht seither immer öfter Grossandrang. Einen ersten Höhepunkt markierte 1930 eine „Hochzeit auf afrikanisch“. Wo sich sonst die Flamingos tummeln, stellte man eine senegalesische Dorfgemeinschaft aus. Für einen Franken Extra-Eintritt konnten Neugierige den „Negern“ bei der Arbeit zusehen und – Höhepunkt der Attraktion – der Eheschliessung eines jungen Paares. 7000 Schaulustige lockte das Spektakel an einem einzigen Nachmittag in den Zoo. Heute setzt die Direktion wieder auf exotische, aber nicht mehr auf menschenverachtende  Akzente. Und hat grossen Erfolg damit. (Stichwort: Masoala-Halle und das damit verbundene Entwicklungsprojekt auf Madagaskar.) Allein seit 2001 hat sich die Besucherzahl von 800'000 um eine ganze Million erhöht. Nicht gelöst sind bis jetzt die Verkehrsprobleme, die daraus für Fluntern erwachsen. Zumal Wald und Friedhof, Hochschul-Sportanlagen, Tennis-Plätze und Familiengärten zusätzliche Besucher anlocken. Der neueste Magnet, das Fifa-Zentrum, steht streng genommen auf Hottinger Boden, doch der Weg dahin führt eindeutig über Fluntermer Strassen. 

Unten, im Plattenquartier, sind die Pensionen längst verschwunden. Dort breitet sich das Hochschulquartier immer mehr aus. Die Areal-Überbauung des ehemaligen Rotkreuzspitals zu einem Ausbildungszentrum für medizinische Pflege stellt nur den Anfang dar. Weitere Grossbauten sind geplant. Immer mehr alte Häuser und grosse Gärten verschwinden und machen Mehrfamilienhäusern Platz.

Nicht auffallen

Dennoch: Fluntern gilt als eines der attraktivsten Wohnquartiere der Stadt. Der Blick über Zürich, die Nähe zum Zentrum, die vergleichsweise Ruhe – wer will mehr? Die Protz-Villen sind hier in der Minderzahl. Viel eher unterstreicht gute Architektur zurückhaltend Eleganz, Selbstverständnis und Reichtum der Bewohner. Wie schon vor 100 Jahren wohnen auch jetzt viele Professoren, Ärzte, Bankiers, Wissenschafter und Künstler im Quartier. Zwischen 1966 und 1990 stellte Fluntern die Stadtpräsidenten: Sigmund Widmer und Thomas Wagner. Den Berühmtheiten der frühen Jahre folgten heutige. Allen ähnlich ist die Diskretion: Man stellt seine Wichtigkeit nicht zur Schau – oder kaum. Tina Turner war da nur eine kleine Spitze des Nobelberges.

Für Zürich ist Fluntern nach wie vor eine Hochburg. Nicht länger für Geissenmilch vielleicht, aber ganz bestimmt für weitsichtige, kluge Köpfe.

Regine Kretz